Alt 20.03.11, 18:52
Standard So tickt die Börse: Der Gewöhnungseffekt
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Ihr Autor hat häufig Probleme, die Auswirkung bestimmter Ereignisse auf die Finanzmärkte richtig einzuschätzen. Denn die Finanzmärkte reagieren manchmal entgegen der volkswirtschaftlichen Vernunft, und so werden nicht nur Ihr Autor sondern viele andere Anleger immer verunsicherter, insbesondere in turbulenten Zeiten wie diese Wochen. Ich will Ihnen ein paar Beispiele geben:

Der japanische Yen müsste volkswirtschaftlich gesehen eigentlich fallen. Das Land Japan hat aufgrund der Erdbeben-, Flutwellen-, Atomkatastrophe heute eine wesentlich schwächere Wirtschaftsleistung als zuvor, und der Wert des Yens bemisst sich mittelbar aus der Menge der umlaufenden Yen und der Umlaufgeschwindigkeit im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung. Wenn die Wirtschaftsleistung auf der einen Seite sinkt, muss auch der Außenwert des Yens auf der anderen Seite sinken.

Dennoch stieg der Yen die ganze Woche lang. Als Grund wird angegeben, dass Japan für den Wiederaufbau viel Kapital benötigt, und dieses Kapital werde nun von den Japanern aus dem Ausland ins Heimatland zurückgeholt. Diese zusätzliche Nachfrage nach Yen führt zu einem steigenden Yen.

Bislang habe zwar noch keine Versicherung Geld aus dem Ausland zurückgeholt, um für die zu erwartenden Schadensansprüche ausreichend Yen vorzuhalten. Auch habe noch keine Bank Geld zurückgeholt, um die zu erwartende Kreditnachfrage für den Wiederaufbau ausreichend zu unterlegen und auch Unternehmen seien noch nicht aktiv geworden, um Kapital für nun notwendige Investitionen zu holen. Lediglich Spekulanten seien die Verursacher des aktuellen Kursanstiegs des Yens auf ein Allzeithoch gegenüber dem US-Dollar.

Okay, sagt sich Ihr Autor, dann steigt der Yen eben kurzfristig und mittelfristig, wenn diese Welle endet, müsste der Yen dann aber wieder fallen, oder? So erklärt sich auch die Intervention der G7-Notenbanken, die diese Nacht beschlossen wurde und in deren Folge der Yen um 8% abgab. Die Notenbanken ermöglichen es japanischen Versicherungen, Banken und Unternehmen, ihr ausländisches Kapital zu einem vertretbaren Kurs zurückzuholen und werden in ein paar Monaten vermutlich diese Aktion mit Gewinn rückgängig machen können.

Doch das Volumen verwundert mich: Allein die japanische Notenbank hat bereits 53 Mrd. Euro in die Währungsmärkte gepumpt. Bei einem geschätzten gesamtwirtschaftlichen Schaden von 130 Mrd. Euro würde ich doch erwarten, dass eben nicht mehr als 130 Mrd. Euro aus dem japanischen Ausland zurückgeholt werden müssen. Wenn allein die japanische Notenbank bereits fast die Hälfte dieser Summe zur Verfügung stellt, um Spekulanten Einhalt zu gebieten, dann ist hier die Verhältnismäßigkeit der Spekulanten zum realwirtschaftlichen Volumen in meinen Augen nicht mehr gegeben.

Ein weiterer Zusammenhang ist offensichtlich genau anders herum als zunächst von Ihrem Autor angenommen: Wenn Gaddafi in Libyen siegt, dann dürfte der Ölpreis fallen. Ich hätte vermutet, dass der Ölpreis erst recht ansteigt, wenn dieser Verbrecher weiter am Ruder bleibt. Doch die Finanzmärkte kennen Gaddafi als verlässlichen Vertragspartner der USA und Europas, wenn es um Öllieferungen geht, und die Finanzmärkte stufen eine erfolgreiche Revolution, so wünschenswert dies für das Volk Libyens auch sein mag, als Gefahr für die künftigen Öllieferungen aus Libyen ein. Wer weiß, wer nach der Revolution an die Macht kommt und was für neue Ideen dann plötzlich im Land vertreten werden.

Umso erfreulicher finde ich die heutige Resolution der UNO, in Libyen einzugreifen und das Volk gegen Gaddafi zu unterstützen. Der Ölpreis quittiert die Entscheidung mit einem kräftigen Preisanstieg.

GEWÖHNUNGSEFFEKT

Wo ist eigentlich Bin Laden? Erinnern Sie sich, wie die Welt vor 10 Jahren im Chaos zu versinken drohte, wenn diesem Schwerverbrecher nicht das Handwerk gelegt werden könnte? Die USA marschierten in Afghanistan ein, um Bin Laden zu finden, denn er galt als Schlüsselfigur für eine antiamerikanische und antidemokratische Bewegung auf der ganzen Welt. Man konnte sich kaum vorstellen, einem normalen öffentlichen Leben nachzugehen, solange dieser Mann frei herumläuft.

Nun, er läuft heute noch frei herum und veröffentlicht ab und zu Videobotschaften oder Tonbandaufnahmen. Doch die Finanzmärkte reagieren nicht mehr darauf. Man hat sich an al-Qaida gewöhnt.

Besser noch: Die jüngsten Entwicklungen in der arabischen Welt widerlegen das Ziel al-Quaidas, dass die arabischen Völker sich nur durch Kampf gegen die westlichen Länder aus der Sklaverei befreien können. Die friedliche Demonstration von Tunesien und Ägypten oder die Bürgerkriege in Libyen und Bahrain nehmen al-Quaida den Nährboden. Wer hätte vor zwei Monaten noch eine solche Lösung des Bin Laden-Problems für möglich gehalten?

Wo ist eigentlich der „Global“? Erinnern Sie sich, als vor drei Jahren dem Euro das Ende beschieden wurde. Und auch der US-Dollar war damals verdammt, in die Unbedeutendheit abzusinken, und Verschwörungstheoretiker veröffentlichten „geheime“ Pläne, die Welt mit einer neuen Währung, dem „Global“ zu bestücken.

Damals schien die Schuldenlast der zivilisierten Länder untragbar hoch, und Regierungen waren theoretisch nicht in der Lage, die Billionen an Verlusten der privaten Finanzwirtschaft aufzufangen. Theoretisch.

Praktisch haben die Regierungen mit Versprechungen und lockerer Geldpolitik das Finanzsystem gerettet und ihre Verschuldung „nun aber wirklich“ auf ein nicht mehr tragbares Niveau gehievt. Dieses „nun aber wirklich“ nicht mehr tragbar hohe Niveau wird nun bereits seit zwei Jahren getragen. Wir zahlen noch immer in Euro und auch der US-Dollar ist uns willkommen.

Dieses untragbar hohe Niveau ist uns um die Ohren geflogen, als Griechenland ..., na Sie wissen schon. Und auch heute ist ein Schuldenschnitt in Griechenland täglich imminent. Aber der Euro ist dadurch nicht mehr in Gefahr, man hat sich dran gewöhnt.

Zum Glück agiert die UNO nun wenigstens in der Libyen-Frage. Das kostet wieder viel Geld, wer soll das bezahlen? Aber es ist in meinen Augen an der Zeit, den Verbrecher dort unten abzulösen. Zwischen Ägypten und Tunesien hätte sich Libyen künftig umso stärker abschotten müssen, Gaddafi hätte noch totalitärer regiert und das Volk hätte noch länger leiden müssen. Wollen wir hoffen, dass dort ein seichter Übergang in eine neue Regierungsform gefunden wird.

Aber, hätte es diese UNO-Resolution heute Nacht nicht gegeben, die Finanzmärkte hätten sich auch wieder an Gaddafi als Machthaber in Libyen gewöhnt.

Als kritisch würde ich die Situation in Bahrain bezeichnen, dort stoßen nun unterschiedliche arabische Interessen aufeinander, und die dortige Situation hat das Potential, einen heftigen, länderübergreifenden Streit innerhalb der arabischen Liga zu entfachen. Wir werden uns wohl an die Spannungen dort unten gewöhnen müssen...

...und so herzlos das auch klingen mag, aber die Finanzmärkte werden sich auch an die nukleare Katastrophe in Japan gewöhnen. Es findet eine Kernschmelze statt, und die Umgebung ist radioaktiv verseucht. Eine Explosion wie in Tschernobyl scheint derzeit ausgeschlossen, man braucht sich also vorerst nicht um eine radioaktive Wolke sorgen, die über die Welt zieht. Doch je nach Wetterlage gerät heute schon bisweilen radioaktive Luft bis nach Tokio, und ich bin sicher, dass hinter den Kulissen bereits das unwahrscheinliche Szenario einer Evakuierung Tokios durchgespielt wird.

So schrecklich die nukleare Katastrophe sich also darstellt, so begrenzt bleibt zunächst deren Auswirkung. Vorerst. Inzwischen haben die Erbauer des Kraftwerks zugegeben, nicht ausreichend auf Erbeben und Flutwellen vorbereitet gewesen zu sein. Und so gehen einige Wissenschaftler nun davon aus, dass die Kernschmelze den Untergrund durchfressen wird und sodann radioaktive Strahlung durch das Grundwasser über das ganze Land verteilt wird.

Wenn Sie sich meine obigen Ausführungen zu den anderen Katastrophen vor Augen führen, dann können Sie vielleicht nachvollziehen, dass die Finanzmärkte inzwischen auch solche Horrorszenarien mit Ziffern versehen und entsprechend eingepreist haben.

Während in den ersten Tagen jede gescheiterte Rettungsaktion an der Börse mit Kursverlusten beantwortet wurde, so nimmt man inzwischen fast schon gelassen hin, dass das Land einige unerschrockene Männer auf ein Himmelfahrtskommando (Kamikaze) in den Reaktor schickt, um die Kernschmelze zu verlangsamen. Die Kurse ... steigen.

Mit dieser Auflistung möchte ich Sie nicht davon abhalten, sich mit den menschlichen Tragödien zu beschäftigen, die sich überall auf der Welt tagtäglich abspielen. Aber Sie sollten wissen, dass solche Tragödien an den Finanzmärkten stets binnen weniger Tage einen „Gewöhnungseffekt“ hervorrufen.

Fukushima ist weiterhin eine höchst bedrohliche Situation. Wie oben beschrieben kann es dort noch deutlich schlimmer werden bevor es besser wird. Und ich fürchte, dass die Nachrichtenlage noch einige Wochen, wenn nicht Monate, sehr schlecht bleiben wird. Ich habe daher in den vergangenen Tagen die spekulativen Positionen unserer Beobachtungsliste reduziert.

Doch gleichzeitig bin ich der Überzeugung, dass in einem Jahr die Börsen deutlich höher stehen werden als heute. Denn anders als die Finanzkrise, in der das System tatsächlich zu kollabieren drohte und nur durch die konzertierte Flutung der Finanzmärkte mit Liquidität durch diverse Notenbanken sowie Regierungen aufgefangen werden konnte, so wird beim Libyen- und Japan-Desaster irgendwann der Gewöhnungseffekt an den Finanzmärkten eintreten, und man wird gegenüber weiteren Meldungen relativ gleichgültig reagieren.

Seien Sie nicht böse auf mich, seien Sie böse auf die Finanzmärkte. Ich beschreibe nur wie es ist.

Wird Japan, das Land, das ohnehin bereits weltweit die höchste Verschuldung aufweist, aus dieser Krise herauskommen? Oder sehen wir soeben den Tropfen, der das weltweite Finanzsystem endgültig aus den Fugen hebt?

Ich kann Ihnen diese Fragen nicht beantworten. Ich kann lediglich Überlegungen dazu anstellen, wie man sein Vermögen aufgrund der augenblicklichen Nachrichtenlage am besten strukturieren sollte.

WOCHENPERFORMANCE DER WICHTIGSTEN INDIZES

INDIZES (17.03.2011)

Dow Jones: 11.775 | -3,9%
DAX: 6.657 | -7,9%
Nikkei: 9.207 | -13,9%
Euro/US-Dollar: 1,409 | 0,8%
Euro/Yen: 115,039 | -0,3%
10-Jahres-US-Anleihe: 3,25% | -0,3
Umlaufrendite Dt: 2,83% | -0,1
Feinunze Gold USD: $1.407,50 | -0,8%
Fass Crude Öl USD: $103,37 | 0,8%
Kupfer in US$/to: 9.565 | -4,0%
Baltic Dry Shipping I: 1.533 | 16,4%


13,9% ist der Nikkei in Folge der Katastrophen eingebrochen. Auch der DAX wurde heftig ausverkauft, den Dow Jones traf der Ausverkauf verhältnismäßig gering.

In meinen Augen sind die US-Amerikaner bereits stärker auf das „Kaufen, wenn die Kanonen donnern“ eingestellt. Dort werden umgehend Aktien aus der Baubranche gekauft, wenn ein Erdbeben oder eine Flutwelle Schäden anrichten. Dieser Instinkt zum Profitieren aus dem Chaos ist in Deutschland noch nicht sehr verbreitet – auch Ihr Autor musste sich erst an diese Eigenart der internationalen Finanzmärkte „gewöhnen“.

So ist die Katastrophe entweder in den USA noch nicht ausreichend berücksichtigt, oder in Deutschland übertrieben eingepreist. Entsprechend ergeben sich bei einzelnen Titeln Verkaufsgelegenheiten, bei andern Kaufgelegenheiten.

SENTIMENTDATEN

Analysten
Empfehlungen (Anzahl Empfehlungen): Kaufen / Verkaufen
25.02.- 04.03. (330): 53% / 8%
04.03.- 11.03. (334): 50% / 7%
11.03.- 18.03. (327): 56% / 9%

Kaufempfehlungen der Analysten
Dt. Post, First Quantum Minerals, K+S

Verkaufempfehlungen der Analysten
RWE, Teleplan, Hermes Intl.

Privatanleger
09. KW: 75% Bullen (233 Stimmen)
10. KW: 67% Bullen (189 Stimmen)
11. KW: 43% Bullen (218 Stimmen)

Kaufempfehlungen der Privatanleger
Electricité de France, Daimler, Yingli Green

Verkaufempfehlungen der Privatanleger
Conergy, Tokyo Electric Power, Münchener Rück


Die Sentiment-Daten wurden in Zusammenarbeit mit Sharewise erstellt: http://www.sharewise.com?heibel

Während Analysten von Katastrophen unbeeinflusst eben wie Profis nur nach Unternehmenszahlen gehen und ihre Kaufempfehlungen weitgehend aufrecht erhalten, ist bei Privatanlegern Panik ausgebrochen. Das Bullenlager ist mit 43% extrem klein. In der Verunsicherung greifen Analysten auf ihre Zahlenmodelle zurück. Mangels solcher Modelle verfallen Privatanleger leicht in Panik. Ich denke, die richtige Reaktion auf die Katastrophe wird irgendwo dazwischen liegen.
Für Inhalt und Rechtmäßigkeit dieses Beitrags trägt der Verfasser Stephan Heibel die alleinige Verantwortung. (s. Haftungshinweis)  
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