Alt 11.06.22, 11:26
Standard So tickt die Börse: Zu spät, zu wenig
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Christine Lagarde bleibt ihrer Linie treu: die Finanzierung staatlicher Ausgabenexzesse ist wichtiger als das für die EZB verbindliche und einzige Ziel der Geldwertstabilität. Und in vorauseilendem Gehorsam werden Banken inzwischen bestraft, wenn sie schmutzige Energien wie die Ölbranche finanzieren.

Also, um es etwas zugespitzt zu formulieren: Wir erleben eine Inflation wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Größter Preistreiber ist der Ölpreis, doch wer die Ausweitung der Ölförderung finanziert, stößt gegen das Klimapostulat der EZB und muss Strafe zahlen.

Gestern hat die EZB das Ende des Anleihekaufprogramms verkündet. Ursprünglich sollte die Liquiditätsflutung erst im Herbst auslaufen, doch angesichts der Inflationsrate von 8,1% in Europa ist Eile geboten: Zum 1. Juli werden die Neukäufe beendet. Die Rückkäufe fälliger Anleihen aus dem Programm werden jedoch auf unbestimmte Zeit fortgesetzt. Es endet also die Geldflutung, jedoch ist von restriktiven Maßnahmen, also der Rückführung der hohen Liquidität, um die Inflation einzudämmen, nicht viel zu sehen.

In ihrer letzten Sitzung vor der Sommerpause wird die EZB dann den Leitzins erstmals seit 2016 anheben. Christine Lagarde hat sich gestern schon auf einen kleinen Zinsschritt von 0,25% festgelegt. Die dann folgende EZB-Sitzung findet im September statt. Trotz der ausgeuferten Inflation bleibt das Zinsniveau in Europa also bis zum September bei 0,25%.

Sie wissen ja: Ein Leitzins bis 2-3% wirkt stimulierend, erst ab einem Leitzins über 3% kann man davon sprechen, dem Markt Liquidität zu entziehen. Der Zinsschritt im Juli von 0% auf 0,25% kann getrost als kosmetisch bezeichnet werden, denn wegen 0,25% Unterschied ändert sich kein Verhalten.

Wichtiger als der absolute Zins ist jedoch die Kommunikation, mit der die Erwartungen beeinflusst werden. Wenn Anleger höhere Zinsen erwarten, steigen die Marktzinsen bereits an. So ist die Umlaufrendite seit Jahresbeginn von -0,28% auf aktuell +1,24% angesprungen, allein weil die angesprungene Inflation die Erwartung für höhere Zinsen genährt hat.

Doch zu aller Überraschung hat Christine Lagarde gestern die Gefahr, die aus der Inflation abgeleitet werden kann, erneut verniedlicht. Vor einem Jahr sprach sie von "transitdry", der Inflationsdruck sei "vorübergehend". Das hat sich als falsch herausgestellt. Gestern sprach sie nun davon, dass der Inflationsdruck abnehme, man könne an den Rohstoffmärkten bereits eine Beruhigung feststellen.

Auch diese Behauptung lässt sich zunächst nicht widerlegen. Doch darin ist die gefährliche Hoffnung zu erkennen, dass die Inflation von ganz alleine wieder zurück gehen wird. Die Hoffnung, auch ohne drastische Zinserhöhungen die Inflation einzufangen, schwingt mit. Denn wenn die EZB den Leitzins deutlich anheben würde, dann steigen auch die Finanzierungskosten für die hoffnungslos überschuldeten Südländer Europas, die Club Med Länder.

Wie von mir bei ihrem Amtsantritt befürchtet ist Lagarde offensichtlich eher den Club Med Ländern verpflichtet als der Geldwertstabilität. Wirklich überraschend ist das nicht, doch es in dieser Deutlichkeit vorgeführt zu bekommen, ist doch nochmal was anderes.

Und noch eine andere gefährliche Folgewirkung lässt sich aus der gestrigen Sitzung ableiten: Wie wir heute an den Aktienmärkten sehen können (DAX -3% seit Zinsentscheid), glauben Anleger nicht, dass die Inflation mit Hoffnung eingefangen werden kann. Man stellt sich auf eine hohe Inflationsrate ein. Entsprechend dürfen wir bei den kommenden Lohnverhandlungen starke Lohnerhöhungen erwarten - mit Ausnahme mal wieder in Deutschland, wo das Volk solche Zusammenhänge in den Jahrzehnten der Bundesbank zu akzeptieren gelernt hat.

Ja, Sie lesen tatsächlich ein wenig Resignation in meinen Zeilen. Ich werde das Tempo, mit dem ich unser Heibel-Ticker Portfolio krisenfest mache, ein wenig anziehen.

Inflationsende durch Nachfragerückgang

Der US-Einzelhändler Target hat diese Woche von zu hohen Lagerbeständen berichtet. Man werde die überschüssige Ware durch Sonderangebote abbauen müssen.

Es handelt sich um den ersten großen Einzelhändler mit dieser Aussage, doch es wird nicht der letzte bleiben. In der Nach-Coronazeit wurden die Lager gefüllt, um für den erwarteten Kundenansturm gewappnet zu sein. Doch die Transportkosten führten zu so starken Preisanhebungen, dass Konsumenten die sprunghaft angestiegenen Preise nicht mehr bezahlen wollen. Zudem huscht das Rezessionsgespenst über die US-Flure. Da halten die Konsumenten ihr Geld lieber beisammen.

Da fällt mir TJX ein, der US-Einzelhändler, der sich auf Restposten spezialisiert hat. Hier in Deutschland kennen Sie deren Geschäfte unter dem Namen TK Maxx. Hersteller können ihre überschüssigen Waren an TJX abgeben, ohne die eigenen Geschäfte zu belasten. Dort sollen nämlich die aktuellen Kollektionen möglichst ohne Preisnachlässe verkauft werden. Zum Ausramschen eignet sich der eigene Laden nicht, daher freut sich TJX immer wieder über Fehlallokationen in der Branche. TJX wird mit einem KGV von 20 bewertet und erzielt ein jährliches Gewinnwachstum von durchschnittlich 12%, die Aktie würde ich als fair bewertet betrachten.

Konsolidierung begann bereits vor EZB-Sitzung

Der DAX hatte bereits zum Beginn der Woche den Rückwärtsgang eingelegt. Als Ursache lassen sich zwei Faktoren ausmachen: Zum einen der Ölpreis, der über 120 USD/Fass gesprungen war. Zum anderen das Zinsniveau, gemessen an der 10 Jahre laufenden US-Staatsanleihe. Die Rendite war in der Vorwoche von 3% auf zwischenzeitlich 2,72% zurück gegangen. Am Zinsmarkt sind das gigantische Kurssprünge. Diese Woche sprang die Rendite wieder an und notiert aktuell wieder über 3% bei 3,04%.

Wenn ich mir nun die einzelnen Bewegungen in den verschiedenen Aktien und Branchen an den Aktienmärkten anschaue, kann ich Ihnen über einhundert Geschichten erzählen, wo welche Anleger aus welchen teilweise nachvollziehbaren, teilweise falschen Gründen verkaufen. Die Verunsicherung ist nach der vermeintlich klärenden EZB-Sitzung nur noch größer geworden. Das Motto lautet "erst verkaufen, dann fragen". Vor dem Hintergrund der EZB-Entscheidung und Zins- und Ölpreisentwicklung werden grob betrachtet zwei Drittel der Aktien zu recht ausverkauft. Es gibt aber auch einige Aktien, die in meinen Augen entweder von den Entwicklungen profitieren - wie bspw. TJX -, oder aber bereits günstig genug bewertet sind.

Schauen wir uns mal die wichtigsten Indizes im Wochenvergleich an.

Wochenperformance der wichtigsten Indizes


INDIZES (09.06.22) Woche Δ Σ '22 Δ

Dow Jones 31.467 -4,5% -13,4%
DAX 13.762 -4,8% -13,4%
Nikkei 27.824 0,2% -3,4%
Shanghai A 3.442 2,8% -9,8%
Euro/US-Dollar 1,05 -1,9% -7,3%
Euro/Yen 141,03 0,5% 7,8%
10-Jahres-US-Anleihe 3,15% 0,18 1,64
Umlaufrendite Dt 1,31% 0,17 1,59
Feinunze Gold $1.863 0,7% 2,1%
Fass Brent Öl $120,90 1,1% 53,4%
Kupfer $9.606 0,8% -0,8%
Baltic Dry Shipping $2.342 -11,1% 5,6%
Bitcoin $29.418 -0,4% -37,4%



Der Baltic Dry Verschiffungsindex ist diese Woche um 11% gefallen. Der Global Container Index (nicht in Tabelle) ist seit Februar von 10.750 auf 7.370 USD gefallen. Im Jahr 2021 war der Preis für das Verschiffen eines Containers auf einer durchschnittlichen Route von 2.500 auf 11.000 USD gestiegen. Wir sehen jetzt also ein wenig eine Normalisierung.

Doch wenn Sie sich die Situation auf den Weltmeeren anschauen, dann erfolgt die Preisnormalisierung aus dem falschen Grund: Wir haben uns ein Einwickeln der weltweiten Lieferketten gewünscht. Doch vor den Häfen der Welt, selbst bei uns in der Nordsee, liegen dutzende Containerschiffe vor Anker und warten auf einen Slot, um ihre Ladung zu löschen.

Wenn bei ersten Einzelhändler die Lager überquellen und Sonderangebote zu befürchten sind, dann wird man sich bei Neubestellungen zurückhalten, zumal die Lieferzeiten derzeit extrem lang und zudem ungewiss sind. Der Preis für den Transport fällt also nicht, weil der Ölpreis fällt. Er fällt auch nicht, weil die Lieferketten sich eingeschwungen haben. Er fällt, weil die Nachfrage zurück geht: Da ist es wieder, das Rezessionsgespenst.
Für Inhalt und Rechtmäßigkeit dieses Beitrags trägt der Verfasser Stephan Heibel die alleinige Verantwortung. (s. Haftungshinweis)  
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